Polina – „Black Swan“ als Graphic Novel?

Ist Tanz heute noch interessant oder ist er eine Kunst für Spezialisten? Ist nicht Theater ohnehin, und klassisches Ballett im Besonderen, in der Zeit von 3D und Games geradezu altmodisch? Grübel…

Schwenken wir zurück in die 80er: die süßliche Fernsehserie „Anna“ zieht massenweise Mädchen in ihren Bann und stachelt sie an, selbst in rosa Schläppchen zu schlüpfen. Cut. Grelle Blende ins Jahr 2011. Ein verwandtes audiovisuelles Medium, das Kino, richtet erneut den Spotlight auf den Tanz, in gleich zwei Filmen. Wim Wenders verbeugt sich vor dem modernen Ballett der „Pina“ Bausch.  Und Darren Aronofsky bringt „Black Swan“ ins Kino, einen Thriller über den krankhaften Ehrgeiz einer Solotänzerin, der zum Persönlichkeitsverlust und schließlich zur Selbsttötung führt. Der Film wird ein Kassenhit. Der Grund dafür liegt vielleicht in der perfekten Visualisierung der Tanzszenen, die – zusammen mit der Musik – die Emotionen der Hauptdarstellung auf den Zuschauer überträgt und sich im Laufe der Filmhandlung delirierend steigert.
 
Ist damit nicht das letzte Wort zum Thema gesagt?
 
PolinaMitnichten. Nun gibt es endlich den Comic zur Kunstform Ballett. Der 28jährige Shooting Star der französischen Bande Déssinée, Bastien Vivès, bedient sich der im Trend liegenden Erzählform Graphic Novel, um die Entwicklungsgeschichte eines begabten Mädchens zu erzählen, die ein Ballettinternat besucht. Vergleichbar zum Film „Black Swan“ ist die Abhängigkeit der noch unfertigen, zerbrechlichen Tänzerin vom übermächtigen Choreographen mit dem Hauch des Genialischen. Wird der Maestro im Film recht klischeehaft als sadistisches Charakterschwein dargestellt, der Talent und Persönlichkeit der Tänzerin wie ein Vampir aussaugt, um seine Visionen durchzusetzen, wird die Beziehung im Comic deutlich differenzierter dargestellt.
 

Zur Handlung: Vivès orientiert sich am Werdegang der jungen Russin Polina, an deren Karriere, wobei private Erlebnisse hineinspielen. Ihre Aufnahme an einer berühmten russischen Ballettschule; der von allen bewunderte wie wegen seiner Strenge gefürchtete Ballettmeister  Bojinski; dessen Konkurrenz zu einer weiteren Pädagogin, die eine freiere Auffassung vom Tanz hat. Polina zwischen diesen beiden. Parallel zur Ausbildung die ersten Theaterauftritte am Theater. Polinas erste Liebe zu einem Tänzer und die spätere Enttäuschung über dessen Untreue. Polina tritt einer modernen Tanztruppe bei, deren Freiheiten sie nach einiger Zeit als Beschränkungen wahrnimmt. Sie flüchtet nach Berlin (die hiesige kreative Szene wird charmant beschrieben) und findet einen eigenen Weg, der sie berühmt macht.
 
Nie ganz aus den Augen verliert sie ihren Ballettlehrer Bojinski, den sie mit etwas Abstand immer mehr zu schätzen weiß. Am Ende spürt man eine Art von Befreiung durch ihr Treffen mit ihm, eine Rückkehr zu den Wurzeln.
Die Geschichte wirkt sehr lebensnah. Zeichner und Autor Vivès muss sich viel Zeit für Studien und Recherche genommen haben, sodass er so gut wie ohne Klischees auskommt. Die Hauptfigur (optisch orientierte sich der Zeichner an der echten Primaballerina der Staatsoper Berlin, Polina Semionova) wird im Laufe der 200 Seiten vom fragilen, schüchternen Mädchen zur selbstbewussten erwachsenen Frau und macht Erfahrungen durch, die trotz ihres unspektakulären Charakters spannend zu lesen sind. Ein ruhiger Rhythmus zeichnet die Erzählung aus, der immer wieder durch lebendig beschriebene Erlebnisse aufgelockert wird.
Hier wird eine Stärke des Comics sichtbar: Die Bilder, die nur den nötigsten Dialog enthalten, oft geradezu „stumm“ erzählen, lassen genügend Freiraum für den Leser, um eigene Gedanken zu entwickeln. Bildfolgen werden oft nicht zu Ende erzählt, zwischen zwei Seiten finden häufig abrupte zeitliche Sprünge statt. Offene Fragen werden durch Bilder der nächsten Szene beantwortet, die Handlung läuft fließend weiter.
 
Damit beweist Vivès ein ausgesprochenes Talent für Bildsprache, die nicht jeder Comic wirklich auszunutzen weiß – man denke etwa an klassische Kriminalcomics wie Blake und Mortimer, oder auch an manche autobiographische oder politisch ambitionierte Graphic Novel, deren Text die gezeichnete Handlung oft doppelt.
 
Figuren und Handlung werden äußerst nüchtern dargestellt, ganz unsentimental, und trotzdem ist dem Leser die Hauptperson immer sehr nahe. Vivès schafft es, ihre Emotionen auf minimale Weise sichtbar zu machen.
 
Vivès´ Zeichenstil ist sehr leicht und lebendig. Manches Bild hat etwas Skizzenhaftes, wirkt unfertig, aber treffend, und lenkt den Blick weiter. Ein flotter schwarzweißer Tuschstil lässt das Lesen leicht fließen. Immer wieder gelingen herausragende Einzelzeichnungen, die auch erzählerische Höhepunkte darstellen, etwa bei den lang vorbereiteten Aufführungen im Theater, oder bei privaten Gruppenszenen, Szenen in der Kneipe oder Disco, die äußerst lebendig wirken und einem die hier porträtierte „Szene“ nahebringen. Dabei wirkt das dargestellte Milieu, die Theater-, Ballett- und Independent-Tanz-Szene, überhaupt nicht abgehoben, sondern ganz normal. In manchen intimen Szenen gelingen Bastien Vivès besonders berührende Momente, etwa, wenn Polina einsam ist oder wenn sie einen freien Tanz improvisiert. Die Zeichnung bildet hier nicht nur wunderschön und exakt Tanzpositionen ab. Es entsteht Poesie. Hier transportiert sich, was Polina beim Tanzen empfindet. Vielleicht sind manchem Leser am Ende Wesen und Faszination des Tanzes klarer geworden.
 
Für Liebhaber anspruchsvoller Graphic Novels mit poetischen Tönen.
 
Polina
von Bastien Vivès
Reprodukt
Softcover, 208 Seiten, 2-farbig, 24 EUR
 
 
Über den Rezensenten: Ralph Trommer ist Autor von Kurzgeschichten, Drehbüchern und Animationsfilmen. Er taucht gerne in die faszinierende Welt der Comics ein.